Den Fremdlingen Raum geben, weil Gott die Fremdlinge liebt!

 

Pensioniertentagung für PfarrerInnen

in Aarau 2018

 

 

Markus 11, 15 - 18

 

 

 

Begrüssung: Auch ich heisse Euch in Aarau willkommen. Marta und ich gehören nun schon seit 12 Jahren zu dieser Gemeinde.

Ich wurde eingeladen, eine biblische Besinnung zu halten zum Thema: «Den Fremdlingen Raum geben, weil Gott die Fremdlinge liebt!»

Und ich möchte heute morgen mit Euch teilen, wie ich im Laufe meines Lebens Bibeltexte stets neu gelesen und verstanden habe.

Vor allem das Leben und Handeln Jesu hat in den verschiedenen Lebensphasen sehr unterschiedlich zu mir gesprochen.

Heute werde ich das an einem Text aus Markus 11, 15 – 18 aufzeigen.

 

Sie kommen nach Jerusalem. Und als er in den Tempel hineinging, begann er alle hinaus zu treiben, die im Tempel verkauften und kauften. Die Tische der Geldwechsler und die Stände der Taubenverkäufer stiess er um und liess nicht zu, dass man irgendetwas über den Tempelplatz trug. Und er lehrte sie und sprach: Steht nicht geschrieben: Mein Haus soll ein Haus des Gebets heissen für alle Völker? Ihr aber habt es zu einer Räuberhöhle gemacht!

Und die Hohen Priester und Schriftgelehrten hörten davon und suchten Mittel und Wege, wie sie ihn umbringen könnten. Denn sie fürchteten ihn, weil das ganze Volk überwältigt war von seiner Lehre.

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Mitten im Getriebe der Menschen, welche zum Passahfest nach Jerusalem gepilgert waren, gab es einen schockierenden Auftritt Jesu im Vorhof des Tempels. 

Ich sehe noch das antiquierte Bild von Hans Schnorr vonCarolsfeld, vor mir. Oft hatte ich es im Band ‘Bilder zur Bibel’ betrachtet. Der Maler lebte in Leipzig von 1794 bis 1872. Er war ein Meister der deutschen Romantik. Und er wusste, wie man  Szenen dramatisch ausgestaltet. Der prophetische Akt Jesu wurde von ihm als  gewaltsamer prophetischer Akt  der «Tempelreinigung» inszeniert. Der Künstler schrieb dazu: Es geht um Zucht und Ordnung.

 

Solche Bilder wirken prägend. Aber entsprechen sie der Intention der biblischen Erzählung?

Am Theologischen Seminar hatten wir im Zusammenhang mit der Besprechung einer Katechese einen Disput über das Bild von Jesus, welches uns schon in unserer Kindheit vermittelt wurde — wie zum Beispiel in diesem Holzschnitt. Kann es sein, dass Jesus einen Strick wie eine Peitsche drohend in seiner rechten Hand hielt?

Als Nachkriegsgeneration konnten wir uns einen Gewalt androhenden Jesus einfach nicht vorstellen. Soviel hatten wir aus dem 2. Weltkrieg gelernt: Probleme lassen sich nicht mit Gewalt lösen. 

Einer der Studenten meinte: «Es heisst im Text, dass Jesus Tische umgestossen habe, aber Gewalt gegen Menschen habe er ganz gewiss nicht angewendet!»

 

«Tempelreinigung»: was für Bilder siehst Du vor Dir?

Bevor wir Jesu harte Hand gegen die Dealer im Tempelvorhof fehlinterpretieren, müssten wir Klarheit haben darüber, was die Herausforderung war, auf welche Jesus mit dieser prophetischen Handlung überhaupt reagierte.

 

Hatte er etwas gegen den Handel mit Opfertieren, welche die Pilger gemäss der jüdischen Ordnung und Sitte als persönliches Opfer zum Tempel brachten? 

Hatte er etwas gegen den Lärm des Marktes im Vorhof des Tempels also im Hause Gottes?

Oder wollte er zeigen, wer der Herr im Hause ist?  ...

 

Seit ich mich intensiv mit der Migration befasse, lese ich auch die Bibel anders. Aufgrund der gemachten Erfahrungen verstehe ich biblische Texte neu. So möchte ich euch einladen, mit mir den Text aus dem Markusevangelium mit neuen Augen zu sehen. Anregung dazu bekam ich auch von einer Syrischen Migrantin. 

Viele haben mit diesem Text über die Tempelreinigung Mühe. Der wütende und Tische umwerfende Jesus passt nicht in unser Jesusbild. Das ungewohnte Bild macht, dass wir uns vor allem über die gewinnsüchtigen Händler empören, welche sich im Vorhof des Tempels installiert hatten. 

 

Dabei war dieser Markt im Vorhof des Tempels eine willkommene Erleichterung für alle Pilger. Sie kamen zur Zeit des Passah zum Tempel, um ihre Opfergaben dar zu bringen.

Viele kamen von weit her gereist. Da wäre es sehr mühsam gewesen, die Opfertiere von zuhause mit zu bringen. Wenn man diese beim Tempel kaufen konnte bedeutet das eine grosse Erleichterung.

Und die Priester liessen die Händler gewähren, denn die Serviceleistung, welche da für die Pilger erbracht wurde, förderte die Opfergaben, von denen die Priesterkaste ja lebte.

Warum hatte Jesus diesen Markt gestört? Was war die Herausforderung, auf welche Jesus mit dieser prophetischen Handlung reagierte.

Die Frommen und die Priester reagierten empört auf Jesu Eingreifen!

Wer das Pilgerfest und den Markt stört, der muss weg!

Zitat: "Und es kam vor die Schriftgelehrten und Hohen Priester; und sie trachteten, wie sie ihn umbrächten."

Jesus, der den bequemen Verlauf des Pilgerfestes  störte, muss weg!

 

Werfen wir einen Blick auf die Tempelanlage jener Zeit, dann entdecken wir eine neue Deutung des Handelns Jesu. Im Kern der Tempelbaute war das Allerheiligste. Das war der Ort, wo Gott wohnt. Dieser Bereich wurde durch den Markt nicht tangiert. Ausserdem gab es den Bereich, wo sich die Israeliten aufhalten durften, wenn sie die Reinigungsvorschriften eingehalten hatten. Hier war für die Israeliten Raum zum Gebet, zur Begegnung mit Gott.

Und ganz aussen war der Vorhof der Heiden, der Fremden, der Ungläubigen. Dieser Vorhof war ein Zeichen dafür, dass Gott in seinem Hause Raum geschaffen hatte, damit die Fremden auch seine Nähe suchen können. 

 

Das ganze Erste Testament spricht davon, dass Gott die Fremdlinge liebt. Darum sollen auch die Israeliten dem Fremdling mit Respekt begegnen und ihm Schutz gewähren. Wie können sie da den Vorhof des Tempels für sich selbst und die eigenen religiösen Bedürfnisse mit Beschlag belegen? Das war doch der Raum für die Fremdlinge.

Das Alte Testament gebietet an über 100 Stellen, den Fremdling zu schützen. Die Bibel begründet diesen Schutz wie folgt: „Ihr seid ja auch Fremdlinge gewesen in Ägypten.". Darum: „Einen Fremdling sollst Du nicht bedrücken noch bedrängen“ (2. Mose 22, 21 + 22). Gottes Liebe zum Fremdling und der von Gott geforderte Respekt für den Fremdling wurde in der Architektur der Tempelanlage abgebildet.

Die Aufforderung Gottes an sein Volk lautete: Lasst den Fremden teilhaben am Segen, welcher vom Tempel aus geht.

Der Vorhof des Tempels wäre also für das Gebet der Fremden bestimmt. Da fand jetzt der Markt mit dem hochgeschätzten Angebot für die Pilger statt. Man nahm diese Bequemlichkeit gerne hin und weil sie den frommen Pilgern diente.

 

Ich meine: Hier stossen wir auf den eigentlichen Grund für die prophetische Intervention Jesu: Er wollte wieder Raum schaffen für die Fremden. Darum sagte er auch in seiner Belehrung an die Pilger: "Steht nicht geschrieben: Mein Haus soll ein Ort sein, an dem alle Völker zu mir beten können? ... Ihr aber habt eine Räuberhöhle daraus gemacht." (Ein Zitat aus Jeremia 7,11).

Ich sehe in diesem Text einen bedenkenswerten Ansatz für ein würdiges und angemessenes Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und Nationen. 

Jesus schaffte Raum für die Fremden. Er vertrieb die Händler aus dem Vorhof des Tempels, weil dieser Vorhof für die Fremden bestimmt war. Und Jesu Botschaft an die frommen Pilger und die Aufsicht führenden Priester war klar: Ihr habt die Fremdlinge ihres Zugangs zu Gott beraubt, weil ihr nur den eigenen Vorteil gesucht habt. 

 

Wer noch weiter mit mir denken will: Der Tempel in Jerusalem wurde bekanntlich zerstört. Im Neuen Testament (1. Korinther 3, 16) schreibt Paulus den Christen: "Wisset ihr nicht, dass ihr des Herrn Tempel seid?"

Kann es also sein, dass Gott von dir und von mir erwartet, dass wir den Fremdlingen bei uns Raum geben?

Kann es sein, dass unsere ängstliche Orientierung am Markt den Fremdling als Konkurrenten erscheinen lässt? Oder dass unser Bedürfnis nach einem umfassenden Service für unsere Frömmigkeit den Fremdling zum Störenfried macht? Unsere Angst zu kurz zu kommen, vertreibt die Fremden aus dem Vorhof unseres Lebens?

 

In einem radikalen Akt hatte Jesus im Vorhof des Tempels die von Gott gesetzte Ordnung wieder hergestellt. Er hatte den Raum für die Fremden wieder frei gegeben. 

 

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Wir kommen zum Schluss: ich wollte heute morgen mit Euch teilen, wie ich im Laufe meines Lebens Bibeltexte stets neu gelesen und verstanden habe. Vor allem das Leben und Handeln Jesu hat in den verschiedenen Lebensphasen sehr unterschiedlich zu mir gesprochen.

Seit ich mich intensiv mit den Migranten und Migrantinnen befasse, lese ich Bibeltexte anders. So auch diese Geschichte der Tempelreinigung.

Gott liebt die Fremdlinge, darum gibt ihnen Jesus den Raum im Vorhof des Tempels zurück. 

In der Nachfolge Jesu sollen auch wir den Fremdlingen Raum geben, weil Gott die Fremdlinge liebt.

 Gebet: 

Lieber Herr, dein Reden und Handeln soll unser Leben als Christen  prägen. Wir bekennen, dass wir nur langsam von dir lernen. Zeige uns, was dein prophetisches Handeln uns sagen will. Hilf uns, die überlieferten Vorurteile zu hinterfragen und unsere Ängste zu überwinden. und neu hin zu sehen und hin zu hören, was du uns zu sagen hast.

Herr, wir sind oft uneins über die Rolle der Fremden in unserem Land und in unserem Leben. Zeige uns neu, was es heisst, dem Fremden Raum zu gewähren in unserem Leben, weil Du die Fremdlinge liebst. Amen. 

Heinrich Bolleter  im August 2018