Buchbesprechung: Europa erfindet die Zigeuner

Buchbesprechung

Europa erfindet die Zigeuner — Eine Geschichte von Faszination und Verachtung.

 

An der Leipziger Buchmesse 2013 anlässlich der feierlichen Eröffnung im Gewandhaus hatte der Literaturwissenschafter Klaus-Michael Bogdal den «Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung» erhalten. Das Werk ist die Frucht langjähriger Arbeit. Die Idee, eine europäische Geschichte der Ausgrenzung der Romavölker zu schreiben (welche in der deutschen Sprache abwertend Zigeuner genannt werden), entstand auf dem Hintergrund eines neuen Anwachsens der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland begleitet von Gewalt, welche man aufgrund eines deutschen Geschichtsbewusstseins bewältigt glaubte. Konfrontiert mit der heutigen Realität und einer Verachtung, welche erneut in der Aussage gipfeln kann, Zigeuner seien zu vernichten, hält der Autor fest: „Der Furor der Verachtung und das Ausschalten menschlicher Empfindung... konnte ich so leicht nicht vergessen“.

Von der Einwanderung der Zigeuner vor sechshundert Jahren in Europa führt der Autor die Leser durch ein Wechselbad von Faszination und Verachtung bis zu der heute in Europa nahezu 12 Millionen umfassenden Volksgruppe. Tragisch ist das Resultat der Studienarbeit: bis heute bleibt die Bürgergesellschaft bei einer weit verbreiteten Diskriminierung und rassistischen Verachtung der Zigeuner.

Die Zwangsansiedlung in den sozialistischen Ländern ließ die Roma und Sintis nach der politischen Wende im Elend ihrer Dörfer wieder auftauchen. Im Umfeld der Migration aus den ehemals osteuropäischen Ländern in die reichen EU-Länder wächst ein neues Zerrbild der Romavölker, welches dem Völker verachtenden Bild in der Zeit des Nationalsozialismus sehr nahe kommt.

Die europäische Geschichte der Ausgrenzung macht uns auch mit einer kaum wahrgenommenen Erinnerungsliteratur der Sinti und Roma bekannt, in welcher von Überlebenden die Holocaust Erfahrung in Auschwitz und Ravensbrück beschrieben wird.

Mit diesem Werk kann jeder Leser und jede Leserin das nur bruchstückhafte Wissen über die Vergangenheit der Romavölker aufbessern und durch die 600 jährige Zeitreise ein neues Verständnis für die Lage der Romas in Europa erlangen. Es handelt sich ja nicht um eine kleine Gruppe von Menschen sondern um mehr als zehn Millionen, deren Existenz in Europa wir geflissentlich übersehen.

„Die Erfindung der Zigeuner in Europa“ zeigt eine Geschichte, auf die wir in Europa wenig stolz sein können. Eine Geschichte von versäumten Chancen und eines destruktiven Potentials, welches mit zum zivilisatorischen Prozess in Europa gehörte und noch gehört.

Wer sich mit dem Schicksal der Roma gestern und heute auseinandersetzen will, kommt an diesem Buch nicht mehr vorbei. Es wurde mit Recht in Leipzig ausgezeichnet mit dem ‚Buchpreis Europäischer Verständigung’.

                                                        Heinrich Bolleter

 

Klaus-Michael Bogdal:

Europa erfindet die Zigeuner — Eine Geschichte von Faszination und Verachtung.

Suhrkamp Verlag Berlin 2011. 590 Seiten.

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0