Die Frage nach den bleibenden Werten

Die Frage nach den bleibenden Werten in einer auf Kurzlebigkeit getrimmten Gesellschaft. 

Noch vor etwa 20 Jahren konnte ich mich über die kurzlebigen Engagements und Verpflichtungen der Kirchen aus den USA wundern und aufregen. Partnerschaften mit den unterstützungsbedürftigen Schwesterkirchen in Mittel- und Osteuropa dauerten 1 bis 3 Jahre. Dann war das Interesse verflogen, und sie wendeten sich einem neuen Projekt in einer anderen Region dieser Welt zu. Ich sah den Charakter der Verbindlichkeit eines Engagements durch diese Kurzatmigkeit bedroht. Heute mache ich ähnliche Beobachtungen auch in der Schweiz und zwar quer durch die verschiedensten Institutionen hindurch, sowie auch im Blick auf die Loyalitäten der einzelnen Personen zu einer Idee oder Sache.

 

Wie können wir die Loyalität in einer eingegangenen Beziehung stärken, wenn in unsrem Umfeld es üblich ist, sich alle Optionen offen zu halten und bei auftretenden Fragen einfach auf die nächste Option zu setzen?

Wie können langfristige Ziele verfolgt werden, wenn wir in einer auf kurzfristige Erfolge getrimmten Gesellschaft leben? Wie können Loyalitäten oder Verpflichtungen eingehalten werden, wenn historisch gewachsene Institutionen sich in Auflösung befinden, weil sie an die Konzepte einer kurzfristig ausgerichteten Ökonomie glauben?

 

Diese neue Umwelt drängt uns zu Flexibilität und zu fortlaufenden autonomen Entscheidungen. Sie stärkt damit unsere Autonomie.

Wie steht es um die kulturpessimistische Kausalkette: Je mehr Freiheit, desto weniger Loyalität... desto mehr Konkurrenz... desto weniger soziale Einbindung... (nach Wilhelm Heitmeyer, Das Gewaltdilemma, Frankfurt /Main 1994)? Ich stelle sie in Frage. Ich will also nicht in Kulturpessimismus machen angesichts der beobachteten Entwicklung. Es liegt sowohl Gefahr als auch Chance darin.

 

Was gibt es Positives zu sagen zur Herausforderung der ungeduldigen und als ‚desintegrierend’ behaupteten Gesellschaft? Wie steht es um die Bindungen an Werte, an Institutionen und an Menschen in einer auf Kurzlebigkeit getrimmten, pluralistischen Gesellschaft?

1. Wir üben uns in neuen Prozessen der Anerkennung von unterschiedlichen Ausrichtungen und Interessenlagen, in Toleranz und Fairness. Dadurch wird das eigene Bewusstsein für Werte gestärkt. Wir stellen uns der Forderung, sich laufend neu zu orientieren oder auch ab zu grenzen.

2. Wir wissen klarer, woher unsere eigenen Werte und Überzeugungen kommen, und wir lernen Werte aus anderen Werte- und Glaubensystemen an zu erkennen.

3. Wir entwickeln ein neues Einfühlungsvermögen (Empathie) für das ‚Fremde’ und das ‚Andere’. Empathie, Loyalität und Verbindlichkeit beruhen nicht auf gleicher Verwurzelung, gleicher Bildung, gleicher Verinnerlichung oder Artikulation. Durch die grössere Nähe zu alternativen Lebensvorstellungen entdecken wir einen neuen Freiraum für unsere eigenen Entscheidungen.

Ein Zeichen für diese Entwicklung ist die Tatsache, dass Freiwilligen-Organisationen einen grösseren Zuspruch haben, als Institutionen, welche nach einer formalen Mitgliedschaft verlangen.

 

Damit soll jedoch nicht geleugnet werden, dass einzelne Menschen in dem Umfeld, das laufend neue Entscheidungen fordert, sich auch überfordert sehen. Der ständige Orientierungsnotstand kann zum Rückzug aus der ‚argen Welt’ führen — dies insbesondere bei religiösen Menschen, welche nie wirklich über ihre eigenen Werte und Wurzeln nachgedacht haben und sich vorwiegend an kopflastige dogmatische Lehrsätze halten. Eine neue Motivation zur Empathie kann Menschen dazu bringen, neue Anstrengungen des Verstehens zu unternehmen, und dabei auch neue Argumente zu finden, ihre eigenen Werte zu verändern oder zu verteidigen, und letztlich eine Befreiung, ihren Glauben überzeugt weiter zu geben.

 

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